Oktober 2022
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Nach den scharfen Korrekturen an den Anleihe- und Aktienmärkten in diesem Jahr ist die Stimmung der Anleger so schlecht wie während der Finanzkrise 2008. Die Börsen befinden sich seit Beginn des Jahres in einem «Sour Spot» - einem Anlageumfeld hoher Inflation, restriktiver Geldpolitik und rückläufiger Wachstumsraten. Aber ein Einbruch wie 2008/09 ist nicht zu erwarten, denn viele Industriegruppen bewegen sich - kaschiert von der Baisse der marktbreiten Indizes - gegen den allgemeinen Abwärtstrend. Das Anlageumfeld hat sich verändert und die Konzentration auf unterbewertete Aktien und Marktsegmente, die über Jahre «Out of Favor» waren, wird sich als vorteilhaft erweisen.
Mit Kursrückgängen von -25% im bisherigen Jahresverlauf preist die US-Leitbörse bereits eine leichte Rezession ein. Ungewöhnlicher ist hingegen die Entwicklung an den Anleihemärkten, denn seit Jahresanfang haben zehnjährige US-Treasuries inklusive Coupon in der Spitze rund 20% verloren – der grösste Jahresverlust in der Geschichte von festverzinslichen US-Staatspapieren. Der Unterschied gegenüber vergangenen Korrekturen liegt darin, dass es sich um einen inflationsbedingten Bärenmarkt handelt, der eher dem der 1970er Jahre ähnelt und nicht den disinflationären Baissen der 1990er/2000er Jahre (siehe u.a. Webinar Ausblick 2022: Goldlöckchen und die drei Bären).
Die Rezession wird kommen, die Frage ist nur wann?
Wie heute war die Baisse von 1974 das Ergebnis eines Ölpreisschocks, hoher Inflation und eines sich verknappenden monetären Umfeldes. Die Aktienmärkte durchschritten ihren Tiefpunkt, als die Inflationsspitze erreicht wurde und die US-Notenbank Fed aufhörte, die Geldpolitik zu straffen. Gleichzeitig wurde der Hochpunkt der Unternehmensgewinne erreicht, aber die Konjunktur folgte den Bewegungen des Aktienmarktes erst ein Jahr später. Hintergrund dieser Entwicklung: Die Inflation stützt die nominalen Variablen (Gewinne), drückt aber die reale Variable (Wirtschaftswachstum). Die wichtigste Lektion, die Anleger daraus ziehen sollten, ist die Tatsache, dass der Aktienmarkt eine Rezession nicht zwei Mal einpreist. Die Erwartung niedriger Anleiherenditen als Folge einer Rezession stützt die Bewertungsmultiples viel stärker als die Rezession die nominalen Gewinne nach unten drückt.
Scharfe Baissephasen finden in aller Regel dann statt, wenn das Gewinn-wachstum negativ ist. Doch die Berichtssaison zum abgelaufenen Quartal hat gezeigt, dass dies aktuell (noch) nicht der Fall ist. Im Moment wachsen die Gewinne in einem gesunden Tempo von rund 14%, auch wenn die Schätzungen für 2023 deutlich tiefer liegen. Die Analysten erwarten jetzt ein Wachstum von 6.8% für das Geschäftsjahr 2023, gestützt durch Rekordmargen von 13%. Interessanterweise meldeten die Indexschwergewichte Apple, Microsoft, Alphabet (Google) und Meta (Facebook) alle einen Rückgang der Margen im Jahresvergleich.
Das zeigt, dass die vermeitlich krisenresistenten Geschäftsmodelle der Techfirmen allgemein und die werbebasierten Geschäfte von Facebook und Google im Speziellen doch zyklischer sind als der Konsens glaubt (siehe Keynote Insights Digitale Werbung – Der Lack ist ab!). Wie aus der Grafik unten ersichtlich wird, war die Margenausweitung des S&P 500 Index in diesem Zyklus vollständig auf die Branchen Technologie und Kommunikationsdienstleistungen zurückzuführen.
In dieser Beziehung ähnelt der Zyklus auf der «Mikroebene» der TMT-Blase im Jahr 2000. In den Jahren vor dem Höchststand der Gewinnmargen im Jahr 2000 war die Technologiebranche für 70% des Anstiegs verantwortlich, Finanzwerte für weitere 30%. Vom Margenhöchst (2000) zum -tief (2002) entfielen 100% des Margenrückgangs auf den Technologiesektor. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es sich bei einer Margennormalisierung in diesem Zyklus ebenfalls um ein Technologie-Phänomen handelt, oder um eine Entwicklung, welche (wie 2008) fast alle Sektoren betreffen wird.
Der Kapitalmarktzyklus
Doch was ist der Grund für diese Margenausweitungen und –kontraktionen? Typischerweise wird Kapital durch hohe Gewinne in einem Geschäftsbereich angezogen und verlässt diesen Bereich wieder, wenn die erzielten Margen unter die Kapitalkosten fallen. Dieser Zustand ist nicht statisch, sondern verläuft in Zyklen. Wurde in einem Sektor wenig investiert, führt das zu Renditen, welche über den Kapitalkosten liegen und zu steigenden Aktienkursen. Der Zufluss von Kapital führt zu neuen Investitionen und bringt optimistische Investoren mit sich, oft auch Euphorie.
Über die Zeit erhöhen sich durch die steigende Konkurrenz die Kapazitäten, was entsprechend Druck auf die erzielten Gewinnmargen ausübt und letztlich fallende Aktienkurse bedeutet. Wenn die erzielten Renditen andererseits tief sind, verlässt das Kapital den Geschäftsbereich, die Investitionen fallen, denn die Investoren werden pessimistisch. Über die Zeit gehen somit die Kapazitäten zurück und oft kommt es zu einer Konsolidierung innerhalb der Branche. Dies bildet in aller Regel die Basis, dass sich die Gewinnmargen allmählich wieder erholen und ein neuer Zyklus beginnen kann.
Vereinfacht gesagt, analysiert der Kapitalzyklus-Ansatz, wie die Angebotsseite, also die Kapazitäten eines Geschäftsbereichs die Wettbewerbsposition eines Unternehmens tangieren. Es geht somit um die Veränderung von Wettbewerbsvorteilen im Zeitablauf aus der Investorensicht oder mit anderen Worten um den «Schlüssel der Aktienmarktzyklen».
In den letzten 40 Jahren hat es eine ganze Reihe klassischer Kapitalzyklen gegeben. Besonders deutlich wird dies an den Technologie- und Rohstoffzyklen. In der folgenden Grafik sieht man den Anteil der Kapitalausgaben (CAPEX) von Technologiefirmen und Rohstoffunternehmen an den gesamten Kapitalausgaben des S&P 500 Index.
Die Technologieblase in den 1990er Jahren brachte fantastische Prognosen über den künftigen Bedarf an Bandbreitenkapazitäten mit sich. Der Anteil der Tech-Kapitalausgaben am gesamten CAPEX des S&P 500 stieg von 20% in den 1980er Jahren auf 37% im Jahr 2000, als die TMT-Blase platzte. Umgekehrt verhielt es sich bei den Rohstoff-Firmen: Infolge hoher Rohstoffpreise in den 1970er Jahren wurde viel investiert, der Anteil der Kapitalausgaben der Rohstofffirmen erreichte Anfang der 1980er Jahre 34%. Aber 1982 endete die Inflationsphase und damit auch die Phase hoher Rohstoffpreise. Bis zum Jahr 2000 gingen die Kapitalausgaben ständig zurück. Es wurde zu wenig investiert, viele Ölunternehmen und Minenfirmen verschwanden. 1982 hätte man also Techaktien kaufen und Rohstoffunternehmen verkaufen müssen.
Dann drehte der Zyklus. In Rohstoffe wurde zu wenig investiert und Rohstoffaktien liefen von 2000 bis 2008 besser als Tech-Aktien. Im Technologiesektor mussten hingegen die Überkapazitäten abgebaut werden. Techaktien erlebten Rückgänge von 60%. Im Energie- und Rohstoffsektor gab es in Folge hoher Rohstoffpreise stark steigende Investitionen durch den Einstieg neuer Marktteilnehmer, die durch zu optimistische Nachfrageprognosen ermutigt wurden. Aber es handelete sich nicht um eine neue Welt von «Peak Oil», sondern um einen klassischen Kapitalzyklus. Der ganze Zyklus dreht, sobald das Angebot stark steigt und die Nachfrage enttäuscht. Die Entwicklung der letzten zehn Jahre ist bekannt: Es gab massive Kapitalinvestitionen in Technologie, aber kaum Investitionen in neue Rohstoffprojekte.
Die Überinvestitionen im Technologiebereich treffen dabei nicht nur die sogenannten Unicorns der Branche (Start-Ups), sondern auch die bisher als widerstandsfähig geltenden, Cash-generierenden Tech-Giganten, oder kurz FAANGs (Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google). Gerade jetzt, wo das Fed mit einem Zinserhöhungszyklus begonnen hat und die Kapitalkosten steigen, hat Big Tech einen massiven CAPEX-Zyklus begonnen. In den letzten zehn Jahren haben sich die Investitionsausgaben der FAANGs von 5.5% des Umsatzes auf 10% verdoppelt - ein Wert, der etwa doppelt so hoch ist wie bei den Firmen im S&P 500 Index. Im Jahr 2021 gaben die FAANGs rund 144 Mrd. USD für Investitionen aus. Das ist mehr als das Doppelte der 20 grössten Bergbauunternehmen weltweit und mehr als das Fünffache der Ausgaben von U.S. Big Oil (Exxon, Chevron und ConocoPhillips) zusammen.
Nach einem Jahrzehnt überdurchschnittlicher Wachstumsraten macht sich bei Big Tech zunehmend das Gesetz der grossen Zahlen bemerkbar. Folglich konkurrieren die Firmen direkt miteinander, wie die Auseinandersetzungen um Apples IOS-Datenschutzeinstellungen zeigen. Auf der anderen Seite hat sich der Kapitalzyklus bei Rohstoff- und Energieunternehmen positiv entwickelt. Jahrelang sinkende Rohstoffpreise, fehlende Finanzierungen und der ESG-Druck in Kombination mit Investitionsdisziplin der Unternehmen haben zu einem gedrückten Angebot geführt. Daher könnte der Zyklus zwischen Technologieaktien und Branchen der «Old Economy» wieder drehen, denn der beste Einstiegszeitpunkt ist dann, wenn die Industrie wenig investiert und über Jahre unterinvestiert hat.
Divergente Branchenentwicklungen sprechen gegen eine unmittelbar bevorstehnde Krise
An den Börsen wird bekanntlich nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft gehandelt. Nicht umsonst gilt die innere Dynamik innerhalb des Aktienmarktes als der beste Ökonom an der Wall Street. Die Mehrheit der Aktienindizes hat seit November letzten Jahres Korrekturen im zweistelligen Prozentbereich erlitten und somit wurde die aktuelle Wirtschaftsschwäche von Mr. Market korrekt vorweggenommen.
Aber die Branchenentwicklung der letzten Monate - insbesondere für die zyklischen Unternehmen - passt nicht so recht ins Bild einer bevorstehenden Rezession oder gar einer Krise wie 2007/08. Wie die Grafiken unten zeigen, sind diverse «Value» Sektoren - Industrie, Energie, Finanzen – in den vergangenen Wochen relativ zum MSCI All Country World Index nach oben ausgebrochen, oder sie stehen im Falle des Grundstoffsektors kurz davor.
Diese Resistenz wird noch deutlicher, wenn die Sektoren nach Industriegruppen aufgebrochen werden: So sind sechs Industrien des MSCI Industrials Index - Aerospace & Defense, Airlines, Commercial Services & Supplies, Road & Rail und Trading Companies & Distribution und Construction & Engineering - unter den Performance-besten fünfzehn Industrien zu finden. Das spricht für einen CAPEX-Boom in der westlichen Welt infolge von Deglobalisierung, Reshoring und Investitionen in die Energiewende (siehe auch Monatsbericht vom Juni).
Relative Stärke zeigen weiterhin der gesamte Energiekomplex und nach den Korrekturen im Frühjahr neu auch der Grundstoffsektor. Interessanterweise sind auch Bankenaktien relativ zum Weltaktienindex nach oben ausgebrochen. Hätten wir eine Situation wie 2008, dann würden wir das entgegengesetzte Bild sehen.
Alle genannten Branchen haben gemeinsam, dass sie - unabhängig davon, ob sie im Bergbau, in der Öl- und Gasbranche, in Industrien der Old Economy oder im Bankensektor angesiedelt sind - lange Zeit unter schlechten Kapitalrenditen gelitten haben. Dies hat zu einer Investitionszurückhaltung geführt. Nun steigen diese Kapitalrenditen zur Überraschung des Marktes wieder an.
Wie eingangs erwähnt, dürfte der «Sour Spot» in den kommenden Monaten weiter eine Menge Lärm verursachen, v.a., wenn sich das Fed länger weigern sollte, ihre restriktive Geldpolitik abzuschwächen und einen «dovisheren Schwenk» einzuleiten. Damit dürfte das Marktgeschehen volatil bleiben. Neue Rückschläge bei den sich nach wie vor im Abwärtstrends befindlichen Tech-Giganten und damit auch bei den Leitindizes wären daher nicht verwunderlich. Aber unter der Oberfläche ist in den kommenden Monaten mit einem (volatilen) Übergang hin zur Marktführerschaft bei zyklischeren Industriewerten, Energie- und Rohstoffaktien und Banken zu rechnen, deren Stärke weiterhin durch ihr geringes Gewicht in den Leitindizes kaschiert wird.
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